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Wolfenbüttel: Eine neue Chance für die Kunstgeschichte?

Der vielleicht lese- und schreibkundigste aller englischen Architekturhistoriker, John Summerson, sagte über den Architekten William Butterfield, „People of taste screw up their faces at the architecture of William Butterfield“ (Menschen von Geschmack verziehen das Gesicht bei der Architektur von William Butterfield), und so auch die Deutschen mit ihrem Forschungszentrum in Wolfenbüttel, der Herzog August Bibliothek.
(John Summerson, „William Butterfield; or, the Glory of Ugliness“, in: Heavenly Mansions and other essays on architecture, 1948, ed. New York: Norton Library, 1963, S. 159-176. Butterfield, 1814-1914: s. Wikipedia.)

Die Bibliothek (HAB) wird gepriesen als ein unvergleichlicher Schatz, Wolfenbüttel als Stadt aber gilt als langweilig, zu meiden fast wie die Pest – zumindest unter Kunsthistorikern. Wie diese allgemeine Meinung zustande gekommen ist, hat etwas mit der provinziellen Lage der Forschungsstätte mitten in Niedersachsen zu tun, in einer kleinen Fachwerkstadt außerhalb Braunschweigs – eindeutig „not trendy“ – und vielleicht auch mit dem leichten Hauch von Mittelmäßigkeit, der an der Wolfenbüttler Forschung und den Forschern haftet: Masse vor Excellenz, mehr Quantität als Qualität.

Die Bibliothek besitzt dennoch eine immense Bedeutung für die historische und kunsthistorische Erforschung des Mittelalters und der frühen Neuzeit, vor allem wegen ihrer Sammlung historischer Quellen und in neuerer Zeit wegen der Digitalisierung dieser Quellen. Wolfenbütteler Digitale Bibliothek ist ein Projekt, mit dem die Herzog August Bibliothek forschungsrelevante, besonders seltene, herausragende oder häufig genutzte Teile ihres Altbestandes in digitalisierter Form internationalen Forschern online und im open-access Verfahren zugänglich macht. Dies ist vergleichbar mit den Digitalisierungsprojekten der Bayerischen Staatsbibliothek, die zur Zeit teilweise über Google Books laufen.

In den letzten Tagen haben sich die FAZ und der Wissenschaftsrat mit Wolfenbüttel und seiner Zukunft beschäftigt.

FRANKFURTER ALLEGEMEINE ZEITUNG:

Am 29. April 2013 ist in der Frankfurter Allegemeine Zeitung (Nr. 99, S. 27) ein Artikel von Jürgen Kaube erschienen, “Mindeste Leistung Skandalös: Wolfenbüttels Bibliothek ohne Konzept“. Er beginnt, „Marbach, Weimar, Wolfenbüttel – wer in Deutschland geisteswissenschaftlich arbeiten will, kommt um Fahrten in die Provinz nicht herum. Weder die großen Archive noch die bedeutenden Bibliotheken sind an einem Ort versammelt. Aber ist das heute nicht einfach nur unpraktisch und bloß noch historisch nachzuvollziehen? Nun, wer das Lob des Zentralen singt, muss erstens sehen, dass die Zentrale in Deutschland ziemlich weit im Osten liegt und näher bei Warschau als bei Köln, Trier, Karlsruhe oder München. Und zweitens ist die Kombination (...)“ (weitere Auszüge folgen am Ende dieses Blogs).

WISSENSCHAFTSRAT:

Unter den neuesten Empfehlungen des Wissenschaftsrats für Wolfenbüttel liest man: die Einrichtung solle ihre Schwerpunkte und Ziele auf dem Gebiet der Forschung und Sammlung klarer definieren. Zur wissenschaftlichen Beratung sowie zur Qualitätssicherung der Arbeit solle die Bibliothek künftig von einem wissenschaftlichen Beirat beraten werden und zudem enger mit anderen nationalen und internationalen wissenschaftlichen Einrichtungen zusammenarbeiten. http://wissenschaftsrat.de/home.html  > http://www.wissenschaftsrat.de/index.php?id=1131&L=  

Siehe ferner: Stellungnahme zur Herzog August Bibliothek (HAB) Wolfenbüttel (Drs. 2997-13). Download [PFD-Dokument / 87 Seiten]: http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/2997-13.pdf
Hintergrundinformationen zur Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Download [PFD-Dokument / 2 Seiten]: http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/hginfo_1113.pdf

Am 29.04.2013 hat der Wissenschaftsrat sein Gutachten der Öffentlichkeit vorgestellt. Darin bekommt die Bibliothek Lob für ihre Dienstleistungen und ihre Digitalisierungsprogramme. Weniger postiv fällt es für das Forschungsprogramm aus. Hier herrsche eine gewisse Konzeptlosigkeit, es fehle eine mittelfristige Planung. Von dem neuen Direktor (ab 2014) wird eine programmatische Perspektive auf die Frühneuzeitforschung erwartet.
„Die Bibliothek hat sich bislang kein Forschungsprofil gegeben, da sie sich in der Forschung vor allem auf ihre Bestände stützen will. Ihre fünf Forschungsschwerpunkte – Geschichte religiöser Kulturen, Wissensgeschichte, überregionale Netzwerke, Kulturtransfer, Sammlungsgeschichte – hat sie nicht in einen programmatischen Zusammenhang gebracht und begründet“. Sie soll „ihr Forschungsprofil schärfen“. Das wissenschaftliche Programm benötige „ein noch einzurichtendes wissenschaftliches Beratungsgremium, das ihre Schwerpunkte regelmäßig überprüft und gegebenenfalls überarbeitet“. Dies erscheint als die eigentliche Aufgabe der Leitung der Bibliothek und Forschungsstätte. Offenbar sind auch Kunsthistoriker an diesen Einschätzungen beteiligt: „insgesamt wird von der Bibliothek die Breite der Möglichkeiten, die die geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen an Impulsen einbringen könnten, noch nicht ausgeschöpft; so ist z. B. die Geschichtswissenschaft stark vertreten und die Kunstgeschichte unterrepräsentiert“.

LEITUNG:

Seit dem Jahre 1968 hat der Ausbau und die Öffnung der Herzog August Bibliothek zu einer europäischen Studien- und Forschungsstätte für das Mittelalter und die frühe Neuzeit begonnen. Verbunden ist diese große Leistung mit dem Namen des Bibliotheksdirektors Paul Raabe, laut der FAZ „Deutschlands bekanntester Bibliothekar“. In Wolfenbüttel begann Raabe, die Bibliothek, die im 17. Jahrhundert als die größte in Europa galt, zu einer modernen, internationalen Studien- und Forschungsstätte für das Mittelalter und die frühe Neuzeit auszubauen und zu öffnen. Seit 1993 ist der Sinologe Helwig Schmidt-Glinzer (*1948) Direktor der Herzog August Bibliothek. Am Ende seiner zwanzigjährigen Amtszeit wird voraussichtlich ein neuer Direktor ins Amt eingeführt. Der Wissenschaftsrat wünscht, dass die Stelle des Direktors der HAB künftig international ausgeschrieben werden sollte; einschlägige fachwissenschaftliche Kompetenz im Kerngebiet der HAB-Bestände sollen gefordert werden. Im Vorfeld der Ausschreibung sollen frei werdende Stabs- und Leitungsstellen nicht besetzt werden, um der neuen Leitungspersönlichkeit durch eine gezielte Personalrekrutierung die Möglichkeit zu eigenen Richtungsentscheidungen zu geben. Empfohlen wird ein stärkeres Engagement des Direktors in der Betreuung von Gastforschenden und in der Eigenforschung der HAB.

WOLFENBÜTTEL INTERNATIONAL:

Der Wissenschaftsrat schreibt: „International mit der HAB vergleichbare Forschungseinrichtungen seien vor allem die Folger Shakespeare Library in Washington und das Warburg Institute in London, des Weiteren auch die Newberry Library in Chicago“. Dies ist eine falsche Einschätzung. Die Newberry Library (Kulturgeschichte und Literatur) kenne ich nur flüchtig aus einem einmaligen Besuch fast in grauer Vorzeit, das Warburg (Kulturgeschichte) und die Folger (frühmoderne englische Literatur samt Umfeld und europäischem Hintergrund) sind jedenfalls nur ganz allgemein thematisch verwandte Einrichtungen, aber grundsätzlich andersartige Institutionen und mit Wolfenbüttel kaum vergleichbar in Reichtum und Dichte ihrer historischen Quellen.

Obwohl Ausländer nach Wolfenbüttel strömen, bleibt offenbar Wolfenbüttel in Wolfenbüttel. „Umgekehrt reisen jedoch nur wenige Mitarbeiterrinnen und Mitarbeiter der HAB zu Tagungen oder Forschungsaufenthalten ins Ausland, und die Zahl der fremdsprachigen Veröffentlichungen in den verschiedenen Wolfenbüttler Publikationsreihen ist gering“. Man fragt sich, ob die Zukunft Wolfenbüttels tatsächlich durch eine intensivierte Zusammenarbeit mit Weimar und Marbach gefördert wäre. Ein Gästehaus zwecks Forschungsaufenthalten und Verschnaufpausen für Stipendiaten in Berlin wäre vielleicht attraktiver. Obwohl die Forschungsbedingungen in Wolfelbüttel sind eigentlich optimal. Einer Institution, deren Schatz nicht zuletzt darin besteht, daß sie unbekannte Schätze birgt, die erst entdeckt und bearbeitet sein wollen, kann man nicht vorschreiben, in welche Richtung sie forschen soll. Das ergibt sich aus der Forschung.


Am 29. April 2013 ist erschienen in der Frankfurter Allgemeine Zeitung der Artikel „Mindeste Leistung Skandalös: Wolfenbüttels Bibliothek ohne Konzept“ (siehe oben):

Marbach, Weimar, Wolfenbüttel – wer in Deutschland geisteswissenschaftlich arbeiten will, kommt um Fahrten in die Provinz nicht herum. Weder die großen Archive noch die bedeutenden Bibliotheken sind an einem Ort versammelt. Aber ist das heute nicht einfach nur unpraktisch und bloß noch historisch nachzuvollziehen? Nun, wer das Lob des Zentralen singt, muss erstens sehen, dass die Zentrale in Deutschland ziemlich weit im Osten liegt und näher bei Warschau als bei Köln, Trier, Karlsruhe oder München. Und zweitens ist die Kombination aus Bahnanschluss und Abgeschiedenheit der historisch-philologischen Arbeit gewiss nicht ungünstig. Das Interesse an Zentralität mit dem Sinn des Dezentralen zu verbinden, das ist die Absicht eines Verbundes, der seit einiger Zeit zwischen dem Deutschen Literaturarchiv (Marbach), der Stiftung Weimarer Klassik und der Herzog August Bibliothek (HAB) in Wolfenbüttel geplant wird. Dabei geht es um Fragen der Digitalisierung von Beständen, eines gemeinsamen Stipendienprogramms, aber auch der Forschungsschwerpunkte.
     Das Land Niedersachsen hatte in diesem Zusammenhang den Wissenschaftsrat im November 2011 gebeten, die Situation der Wolfenbüttler Bibliothek zu begutachten. Sie gibt es seit fast 450 Jahren. Ihre berühmtesten Bibliothekare waren Leibniz und Lessing. Heute ist sie die zentrale deutsche Bibliothek für Drücke, Handschriften und graphische Blätter des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Nun hat der Wissenschaftsrat sein Gutachten zu Wolfenbüttel vorgelegt, heute wird es der Öffentlichkeit vorgestellt. Darin wird dem Bund empfohlen, die HAB mitzufinanzieren. Die Mittel des Landes reichten nicht aus, um das Haus angemessen auszustatten, was Personal, Einkäufe und Bauten angeht. Ein Beleg dafür ist, dass es derzeit auch auf Projektmittel zurückgreifen muss, um seine grundständigen Aufgaben zu erfüllen. Dieser Befund, dass öffentliche Einrichtungen Anträge stellen müssen, um ihre Mindestleistung zu erbringen, ist eigentlich ein Skandal. Er geht weit über Wolfenbüttel hinaus – den Universitäten geht beispielsweise genau so – und gehört zur Pathologie des derzeitigen Verwaltungsstaates.
     Zugleich stellt der Wissenschaftsrat fest, dass der Bibliothek sowohl auf dem Gebiet der Sammlung wie auf dem der Forschung eine mittelfristige Planung fehle. Besonders der knappe Einkaufsetat verlange ein Konzept. Allerdings formuliert das Gutachten dieses erhebliche Monitum etwas paradox. Einerseits werden der Bibliothek als Priorität die (auch digitale) Pflege und Erweiterung ihrer Bestände empfohlen. Andererseits wird ihren fünf Forschungsschwerpunkten – bei insgesamt 31 wissenschaftlichen Mitarbeitern (15 volle Stellen) ist „fünf Schwerpunkte“ ohnehin eine Metapher – attestiert, sie stünden nicht in einem Zusammenhang. Die Breite der Möglichkeiten geisteswissenschaftlicher Arbeit werde noch nicht ausgeschöpft. Wie man das tun soll, weiß auch das Gutachten nicht. Zur künftigen Besetzung der Direktorstelle in Wolfenbüttel hält es nur fest, dass sie erneut mit einer vollen Professur und international ausgeschrieben werden soll. Doch zwischen den Zeilen des Gutachtens lässt sich die Erwartung lesen, dass von der neuen Leitung eine programmatische Perspektive auf die Frühneuzeitforschung erwartet wird.
     Bleiben zwei Fragen: Welchem Bundesministerium wird denn die Herzog August Bibliothek als Zuwendungsempfängerin empfohlen? Und soll es, wie in Marbach und Weimar, der Bundeskulturminister sein, oder wäre nicht doch das Forschungsministerium und eventuell die Leibnitz-Gemeinschaft die besseren, weil finanzstärkeren Adressen? Die andere Frage betrifft den angestrebten Verbund der drei Bücher-, Schriften-, Bilder-, und Museumshäuser. Er ist kein leichtes Unterfangen, denn nicht nur sind die Schnittmengen aus Früh- und Vorneuzeit, Weimar und der Literatur seit dem neunzehnten Jahrhundert überschaubar. Auch die jeweiligen Forschungstemperamente unterscheiden sich zumeist sehr. Die Resonanz der Goetheschillerwelt in der Öffentlichkeit ist eine andere als die der Reformationsepoche oder des lateinischen Europa. Andererseits ist in Wolfenbüttel eine genuin europäische Geisteswelt präsent, wohingegen Marbach und Weimar einen nationaleren Akzent haben.
     Gemeinsam sind den drei Häusern vor allem Fragen der Digitalisierung von Beständen, des Editionswesens und der Forschungsorganisation. Vergleichbar ist auch das Alter ihrer Leiter: des Sinologen Helwig Schmidt-Glinzer (64), des Juristen Hellmut Seemann (59) in Weimar und des Historikers Ulrich Raulff (63) in Marbach. Die Sachfragen des geplanten Verbundes hängen also mit künftigen Personalfragen zusammen. Wenn sich die Kooperationen nicht auf eine gemeinsame digitale „Umgebung“, abgestimmte Stipendiensysteme und epochenübergreifenden Konferenzen – „Das Mittelalterbild von Melanchthon bis Mörike“ – beschränken soll, braucht es darüber hinaus vor allem eines: Ideen und eine Koordinationsstelle, der man eigene Entscheidungen zu ihre Verwirklichung zutraut. Das gegeben, behielte die vernetzte Provinz des Geistes alle Vorzüge.
 
Der Verfasser kennt Wolfenbüttel aus Stipendienzeiten und Forschungsaufenthalten. 1994 hat er an die Konzeption und Realisation der Jahresausstellung teilgenommen; Katalog: Margaret Daly Davis, Archäologie der Antike aus den Beständen der Herzog-August-Bibliothek, 1500 - 1700 (Ausstellung im Zeughaus der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, vom 16. Juli bis 2. Oktober 1994), Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 1994, 155 Seiten.

 

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