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Digital kann mehr! Das neue Graphikportal

Graphik – Zeichnung, Druckgraphik – und Photographie, gerne salopp als „Flachware“ bezeichnet, sind eigentlich die die Lieblinge der Digitalisierung: Graphische Kunst wurde in unvergleichlich höheren Stückzahlen produziert als etwa Malerei oder Skulptur, wurde jedoch zugleich schon seit langem systematisch erfasst und ist nicht zuletzt relativ unproblematisch zu digitalisieren. Außerdem handelt es sich aber um bislang eher unzugängliches Material, das nicht in den Ausstellungssälen hängt, sondern nur auf Anfrage in Studiensälen vorgelegt wird, sodass durch die digitale Erschließung ein besonders großer positiver Effekt erzielt wird. Kurz gesagt: Keine andere Kunstgattung profitiert von der Digitalisierung so stark wie die Graphik.

Speziell die Erfassung von Druckgraphik stellt durch den Umstand, dass es sich beim einzelnen Blatt um einen Abzug von einer Platte handelt, der vielen anderen Abzügen gleicht (oder sich aber auch in Teilen unterscheidet, wenn die Platte noch einmal verändert wurde), besondere Herausforderungen, die geradezu auf das digitale Netz zu warten scheinen. Eine adäquate Erfassung muss letztlich sammlungsübergreifend sein und den klassischen Bestandskatalog überwinden, denn der eine Abzug befindet sich hier, der andere dort. Dabei gibt es Gemeinsamkeiten zwischen den Stücken, die im Sinne effizienten Wissensmanagements auch nur einmal beschrieben werden sollten, ebenso wie individuelle Differenzen, etwa die aus der Sammlungsgeschichte herrührende Beschriftungen der Blätter bzw. letztlich die gesamte individuelle Materialität der Blätter – man kann das schon fast mit den Kategorien des aristotelischen Hylemorphismus beschreiben. Gefordert ist also die Vereinigung einerseits der generellen – mit allen Defiziten hinsichtlich der Einzelnachweise behafteten – Beschreibung der druckgraphischen Produktion, wie sie seit Bartsch unternommen wurde und andererseits den jeweiligen Bestandsbeschreibungen der Sammlungen, die wiederum kaum einen Überblick über alle Varianten und Derivate des jeweiligen Werkes geben können. Hinzu kommen Phänomene wie Serienbildung und Publikation der Drucke etwa in gebundenen Stichwerken. Derartige Aspekte der Zusammengehörigkeit gibt es freilich nicht nur bei der Druckgraphik, sondern auch bei Handzeichnungen, bspw. wenn es sich um Blätter eines Skizzenbuches handelt.

In der Kombination des digitalen Formats mit dem Internet ist die Darstellung solcher Zusammenhänge weitestgehend möglich, daher wird schon seit längerem entsprechende Perspektiven gesprochen. Das von 2007-2011 laufende Projekt „Virtuelles Kupferstichkabinett“, das sich zum Ziel setzte die ursprünglich zusammengehörigen Bestände der Herzog August Bibliothek (HAB) in Wolfenbüttel und des Herzog Anton Ulrich Museums (HAUM) in Braunschweig virtuell wieder zu vereinen, war eine erste größere Initiative. Dieses technisch von Foto Marburg betreute und von der DFG geförderte Projekt war freilich noch vor allem auf die konkrete Aufgabe der Zusammenführung der beiden Sammlungen konzentriert. In einer sich daraus seit 2011 bildenden Arbeitsgruppe „Graphik vernetzt“ schlossen sich, neben den beiden genannten, v.a. Sammlungen zusammen, die bereits mit Foto Marburg und dem Hida/Midas-System arbeiteten, wie etwa die Fotothek der Bibliotheca Hertziana, ergänzt um weitere, teils hoch renommierte Einrichtungen wie die Albertina in Wien oder die Hamburger Kunsthalle erweitert. Auf zwei Tagungen, die im Rahmen des Projekts „Virtuelles Kupferstichkabinett“ veranstaltet wurden („Kupferstichkabinett online“ im März 2011, und „Das Sammeln von Graphik in historischer Perspektive“ im Oktober 2016), kam es teils zu sehr direkten und weitreichenden Überlegungen hinsichtlich der Potentiale digitaler Graphikkataloge.

Sozusagen als Ergebnis all dieser Vorbereitungen wurde jetzt, im November 2017, das Graphikportal freigeschaltet: https://www.graphikportal.org/.  Vielleicht handelt es sich um eine Art Vorab-Veröffentlichung oder eine beta-Version, denn Vieles, worüber in den vergangenen Jahren diskutiert wurde, muss hier schmerzlich vermisst werden. Das steht zunächst vor allem in einem auffälligen Kontrast zur Rhetorik des „Erst- und Einmaligen“, die in den begleitenden Videos und Texten gepflegt wird. Die Aussage, dass graphische Arbeiten „endlich digital gehoben“ werden, erscheint im Jahr 2017, rund 20 Jahre nach den ersten Online-Katalogen graphischer Sammlungen und bald 10 Jahren Europeana, fast ein wenig weltfremd.

Die Seite ist zweifellos schick im Design und geschmeidig in der Handhabung. Intuitiv ist die Live-Search, die vor allem einem Facettierungskonzept arbeitet, wie man es auch in anderen Fällen von den Marburger APS2-Seiten kennt. Aber nach der ersten Freude stellt sich, spätestens sobald man spezifische Fragen an den Bestand hat, Ernüchterung ein.

Das fällt besonders bei der Druckgraphik auf, die dem allgemeinen Publikum vielleicht weniger reizvoll und wertvoll als die Handzeichnung erscheinen mag, aber – wie schon angedeutet - wegen ihrer enormen Masse, des Phänomens der Verbreitung von Werken durch Derivate und der damit verbundenen Schwierigkeit, dies adäquat abzubilden, gerade einen besonderen Reiz für ein Konzept zur Graphikkatalogisierung bieten sollte.

Noch überlappen sich die Bestände der beteiligten Sammlungen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz offenbar nicht allzu sehr (oder die Metadaten sind nicht immer kompatibel, wenn eine bestimmte Suche vorwiegend Exemplare einer Sammlung zum Ergebnis hat), aber bei typischen Beständen dieser Sammlungsgruppe, etwa bei Dürer, gibt es bereits massive Wiederholungen von Abzügen der gleichen Platte (und impliziert die Frage, wievielen Werken die angegebenen 300.000 graphischen Blätter eigentlich entsprechen). Diese Wiederholungen wären keineswegs schlimm, sondern im Gegenteil im Sinn vieler Fragestellungen – etwa zum historischen Kunstmarkt – erfreulich, wenn das entsprechend präsentiert würde. Aber die Suchabfragen haben bislang lediglich eine ungeordnete Reihung von einzelnen Blättern zum Ergebnis, bei denen die Abzüge von der gleichen Platte noch nicht einmal nebeneinanderstehen, sondern u.U. versprengt in der Bildergalerie erscheinen. Auch nach gründlicher Suche konnte weder nachvollzogen werden, auf welcher Grundlage die Reihenfolge der Anzeige beruht, noch eine Möglichkeit zur Sortierung gefunden werden.

Auch übergeordnete Katalogeinheiten für Stichserien (seien sie nun von vorneherein geplant oder im Nachhinein zur Vermarktung zusammengestellt) sind kaum zu finden. Nur vereinzelt scheint ein übergeordneter Datensatz für die Serie oder das Buch vorhanden zu sein (etwa beim Skizzenbuch Joh. Chr. Reinharts im Berliner Kupferstichkabinett, https://www.graphikportal.org/document/gpo00172704), der wiederum auch alle enthaltene Einzelblätter verzeichnet. In vielen Fällen (etwa bei den Vedutenserien des Giuseppe Vasi im Dresdner Kupferstichkabinett) fehlt ein übergeordneter Datensatz völlig, oder ein solcher ist kaum als solcher erkennbar, weil er die enthaltenden Einzelblätter nicht zeigt (etwa bei den Earlomschen Drucken des berühmten Liber Veritatis des Claude Lorrain in der Hamburger Kunsthalle (https://www.graphikportal.org/document/gpo00138399), oder lediglich eine dynamisch erzeugte Summe der Einzelteile darstellt, die keine eine eigene, adressierbare ID besitzt (etwa bei Serien aus der Stuttgarter Staatsgalerie). Dass selbst bei zusammengesetzten Drucken wie Karten oder Panoramen (z.B. Suche nach „Vasi“ + „Prospetto“) bei den Suchergebnissen nicht der übergreifende Datensatz, sondern stattdessen die einzelnen Blätter des zusammengesetzten Werkes und diese auch noch in ungereihter, oder durch andere Suchergebnisse unterbrochener Anordnung erscheinen, ist im Grunde nicht nur ein Schönheitsfehler, sondern ein Ärgernis. Weitere Verlinkungen zu einzelnen Vorzeichnungen, Reproduktionen, Nachstichen sind – bislang – ebenfalls nur in Einzelfällen vorhanden (Bspw. gibt es mehrere Nachstiche v. Hopfer von Mantegnas Tritonen im Portal, die nicht mit einer Vorlage verbunden sind [z.B. dieser https://www.graphikportal.org/document/gpo00103310]). Zu einer erweiterten Suche, die die gleichzeitige Anwendung mehrerer Filter erlaubt, gelangt man erst nach einer ersten allgemeinen Suchabfrage (und sei dies der Aufruf der gesamten Sammlung mit einem „*“)

Das ist eine Wirrnis, die bereits bestens aus der Deutschen Digitalen Bibliothek oder der Europeana bekannt ist und die einem die sammlungsübergreifenden digitalen Kataloge zu verleiden droht. Ja man hat fast den Eindruck, dass die Idee der Katalogaggregation 1:1 von Europeana u. Co. übernommen wurde, aber es nicht einmal gelang die wesentlich spezialisierte Lieferantengruppe auf ein potentes Datenmodell zu verpflichten..

Dabei könnte alles ganz anders sein. Das digitale Format böte doch endlich die Gelegenheit dazu. Anstelle der Unübersichtlichkeit und notwendigen Lückenhaftigkeit der gedruckten Graphikkataloge mit ihren umständlichen und zugleich durch Platzmangel kryptisierten Auflistungen von Zuständen und den Nennungen vergleichbarer Abzüge könnten diese direkt digital repräsentiert werden und mit einem Kopf-Datensatz für die jeweilige (in der Regel nicht mehr erhaltene) Druckplatte zusammengeführt werden. Seitens der Technik und des Datenmodells sollte all dies auch im Graphikportal kein Problem sein, denn als Grundlage des Projekts dient LIDO, das flache Austauschformat von CidocCRM, mit dem man alle relevanten Sachverhalte prinzipiell problemlos ausdrücken kann. Selbst Bibliotheksformate wie FRBR00 rechnen bereits standardmäßig mit der Unterscheidung von Werken, ihren Manifestationen und deren Teilen und erlauben jede Art von Querverlinkung. Auch der Arbeitskreis "Graphik vernetzt" kündigte selbst die Berücksichtigung der Unterscheidung von Druckplatte und Abzügen an – garantiert durch einen entsprechend vereinheitlichten „Feldkatalog“ (https://www.arthistoricum.net/netzwerke/graphik-vernetzt/feldkatalog/).

Mag sein, dass das das Hauptproblem darin liegt, dass für all dies noch eine Menge Forschung notwendig ist, die von den einzelnen Sammlungen nicht ohne weiteres geleistet werden kann. Diese Forschung müsste freilich gar nicht allein von den Sammlungen erbracht werden, wenn man ein derartiges Portal auch als Forschungsplattform nutzen würde. Wäre das der Fall, könnte ein Teil der Arbeit durch die Expertencommunity erledigt werden (um nicht gleich von Crowd Sourcing und Citizen Science zu sprechen). Mit einer tatsächlichen Plattform wäre es außerdem möglich, Klein- und Kleinstsammlungen zu erschließen, die keine Forschungs- und Publikationsmittel haben, aber durch ausgefallene Exemplare oder auch als Ergänzung und Bestätigung von Bekanntem wertvolle Beiträge leisten können. Umgekehrt könnten Datensätze des Portals in spezialisierte Datenbanken eingebunden werden, die spezielle Themen verfolgen, z.B. Karten oder Veduten, und eigene Kontexte dazu bieten (bspw. die u.a. auf die Topographie Roms bezogene Datenbank Zuccaro der Bibliotheca Hertziana; hier mit einem Datensatz zum Rompanorama von Giuseppe Vasi, in dem rund 20 Exemplare verzeichnet sind: fm.biblhertz.it/fmi/xsl/artrecord.xsl.

Vielleicht ist Derartiges bereits geplant. Allerdings sind von außen noch keine Ansätze dazu sichtbar. Weder gibt es open access-Konzept, das die Einbindung und Nachnutzung des Materials in anderen Zusammenhängen anbietet, noch werden Möglichkeiten des Einbringens von zusätzlicher Information aufgezeigt. Zwar gibt eine URL, mit der die Datensatz des einzelnen Abzugs aufgerufen werden können (auch wenn es sich nicht um eine URI oder PURL handelt), jedoch bereits eine Möglichkeit per deep links auf die thumbnails des jeweiligen Werkes zu verweisen, fehlt wieder.

Am Ende stellt sich auch noch eine grundsätzlichere Frage. Kann so ein Unterfangen heute noch vorwiegend als nationales oder jedenfalls einsprachiges Projekt konzipiert werden? Graphikproduktion und Graphiksammeln sind hochgradig internationale Phänomene. Die Entwicklungen im kunsthistorischen Dokumentationswesen haben in den letzten Jahrzehnten eine Menge Klassifikationen und Datenmodelle wie Iconclass, AAT und CidocCRM hervorgebracht, mit denen sich zumindest die wichtigsten Sachverhalte sprachübergreifend, ja gewissermaßen sprachunabhängig, beschreiben lassen. Auch hierzu sind bislang noch kaum Ansätze sichtbar. Eine maximale Strukturierung und Formalisierung von Daten mag scheinbar der Perspektive einzelner Sammlungen entgegenstehen, die einen Online-Katalog noch immer als Pendant zum gedruckten Bestandskatalog sehen. Das muss aber nicht sein; selbst in einem eher als Datenbank aufgefassten Portal könnten die oft vorhandenen, von den einzelnen Sammlungen für ihre eigenen Blätter erstellten klassischen Katalogartikel als sekundäre Texte –  ebenso wie auch andere Forschungsliteratur – zugänglich gemacht werden.

Das ist ja das Schöne am Digitalen: Man kann das Eine tun und muss das Andere nicht lassen – und dasjenige, was noch nicht getan wurde, kann fast jederzeit nachgeholt werden. Aber man sollte es auch tun, denn „digital“ kann mehr! Um aber fair zu sein, muss angenommen werden, dass die monierten Punkte vielleicht schon längst geplant oder gar in Arbeit sind, was dem Außenstehenden jedoch nicht bekannt sein kann. Zukünftige Leser dieses Textes werden die aufgelisteten Beobachtungen hoffentlich nicht mehr antreffen. Und um schließlich auch dem aktuellen Zustand gegenüber Anerkennung zu zollen, muss gesagt werden, dass es bereits jetzt viel Vergnügen bereitet, etwa in den Handzeichnungen eines Künstlers zu blättern, bei denen die Katalogisierung weitgehend unproblematisch ist.

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