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Generalpause

Ende der Entfremdung: Der Staat gibt den Takt an: Generalpause. Eine Nation hält Mittagsschlaf, ohne festen Plan für den Abend. Es gilt kollektive Quarantäne. Staatliche Ermächtigungsgrundlage ist das Infektionsschutzgesetz – IfSG, § 30 IfSG: Quarantäne. Ein Drittel der Weltbevölkerung, so heißt es, ist in Zeiten der aktuellen Massenseuche Lungen„pest“ durch amtlich angeordnete Sperrmaßnahmen derzeit nicht in der Lage, der bisherigen beruflichen Tätigkeit nachzugehen. Man ist zuhause.

Die Poesie zieht wieder ein in die Gesten und Bewegungen der Menschen. Zwei Freunde reparieren gemeinsam einen Reifen, in ruhiger Konzentration, ohne Hektik, stresslos. Ein Mädchen liest. Einer hält eine Frucht, hält sie ein wenig länger, wiegt sie noch ein wenig in der Hand. Jemand hantiert mit etwas und stoppt, aber nicht, um die U-Bahn noch zu erwischen, sondern, um den Arm des Plattenspielers in eine andere Rille zu legen.

Man fährt mit den Augen ab einen Ast in der näheren Umgebung, den man seit 10 Jahren auf diese Weise hätte nachzeichnen können – man tat es nicht. Ein Paar spielt miteinander Schach. Man hat es längere Zeit nicht miteinander getan. Seit die Frau den Mann besiegte, 1994. Seelenruhe zieht ein. Man sortiert etwas, öffnet Schubladen, beginnt zu basteln. Man hängt ein Bild um. Hängt alle Bilder um. Jedes Lächeln ist echt.

Wer Verwandte/Freunde in der sogenannten Risikogruppe hat, fühlt Sehnsucht, Leid, Liebe. Man darf sie nicht besuchen/umarmen (gemäß § 28 IfSG). So schreibt man sich ein in den Kreis des Lebens, aus dem man stammt (Die Lebensalter, Abb. 1). Man ist z.B. (wieder) Enkelkind, Großvater, Sohn. Italien verliert eine ganze Generation. Der zweithäufigste Suchbegriff mit dem Anfangsbuchstaben „B“ vor acht Tagen bei mir im Viertel war „Bestatter“.

Die Kunst der Deutschrömer kommt in den Sinn: eigentlich Zivilisationsflüchtlinge, vermeintlich retrograd, super italophil, in ihren Werken herrscht wieder – kein blanker Realismus, kein Naturalismus vermochte sie auszumerzen – die „Idee“ und die Poesie. Viel Ruhe, Stillstand. Es ist kein naives Ideal, sondern eine reflektierte Idealität, eine nach dem Prozess der Entfremdung in sich zurückgefundene, gesuchte und vermittelte. Zuvor war sie gebrochen, oder ist es noch. Das heißt, dass auch Melancholie und Ironie an der Stelle sind.

Das Ideal lässt sich versuchsweise auch formal fassen, definieren und artikulieren. Nun kommt die digitale Kunstgeschichte ins Spiel, um die es hier geht:

Mit den Topoi von Nichtstun, Pausieren und Müßiggang, der „Generalpause“ also, ideengeschichtlich assoziiert ist die Vorstellung eines Goldenen Zeitalters spätestens seit der Frühromantik. [1] In zahlreichen Versuchen ins Bild gefasst hat Hans von Mareés die Idee des Goldenen Zeitalters.

Für eine der Rötelskizzen (Abb. 3) lässt sich durch Farbmessung im Rotspektralen eine nahezu ideale binnen-geographische 3-er-Rhythmik definieren (Abb. 4; semantisch: Kopf des Jünglings am Baum und Zone um diesen Kopf – Köpfe des Greises und Kindes und Zone um diese Köpfe – Kniekehle des Greises): Stellen, an denen Rötel kumuliert, die vergleichsweise stärkeres Rot im Bild aufweisen und im digitalen Messverfahren höhere Rotfrequenzen erzielen.

Das heißt, der Künstler, das Ideal suchend und skizzierend, erwirkt in eigenartigem 3er-Takt an drei Stellen des Blattes Rotkumulation. Max Imdahl schrieb von der „Spur einer Gebärde“ im Zeichnerischen, vom „Sichtbarkeitswert von hoher Sensibilität“ des Gezeichneten, der Zeichnung als „direkte[r] Spur einer Handbewegung“ und mit dem, von Schopenhauer beeinflußten Einfühlungstheoretiker Theodor Lipps, „dass eine Linie ihren Charakter der Hand verdankt, die sie gezogen hat.“ (1988) [2] Die Linie des Zeichners als Spur seiner Gebärde. Hier hat Imdahl vermutlich (auch) über sich selbst geschrieben. Es war sein letzter Text. Die Linien und Zeilen, das Hinterlassene = Spuren der lebendigen Gebärden für die die Linien Nachfahrenden, die Nachfahren.

Die Maschine nimmt, neben dem Farbwert, im „Sichtbarkeitswert“ somit auch den Zeitwert und Kraftwert der Linien numerisch auf. Das Rötere, mit mehr Hämatit/Rötel/Rot, stammt aus zeitlich längerem Hantieren, unter dem Einsatz von mehr δύναμις (Aristoteles).

Es zeigte sich, dass eine Rhythmik intensiveren Rots besteht. Das heißt, der Künstler verwendet rhythmisch an drei Bildstellen mehr Rötel, die Hand führt intensiver, mehr Kraft, mehr Zeit wird an diesen Stellen aufgebracht, es entstehen andere Werte durch RedcolorTool-Messung als bei Stellen weniger intensiver Zeichnung. Es gibt mehr Rötel, mehr Rot, höhere Rotfrequenzen. Ein Dreiklang im Simultanen, wie ein Akkord der Musik. (Die 3er-Symbolik wird in der finalen Version des symbolistischen Werks auf unterschiedliche Weise thematisch und formal beibehalten werden.)

Die Maschine diversifiziert an Stellen, bei denen der Blick nicht mehr unterscheidet. Dem Begriff nach sind alle Bildstellen der Rötelzeichnung „gleich rot“.

Im Monochromen nach Farbunterschieden zu suchen, wäre für den traditionell verfahrenden Kunsthistoriker methodisch Nonsense. Der Rötel wird einmal identifiziert, fertig. Das „Feld“ in der imaginären relationalen Datenbank wird abgehakt.

Die Numerik der Mathematik und Informatik hilft an dieser Stelle, Farbwerte werden im digitalen Bild zu Zahlwerten. Die Quantifizierung gestattet den Vergleich einzelner Pixel. Unterschiedliche Messverfahren lassen sich vornehmen, die Ergebnisse der Messungen für die bestehenden Digitalisate, die digitalisierten Versionen der originalen Bilder, vergleichen. Im Komparativen leistet die Maschine die Ergänzung des Augensinns. Über ein Kunstwerk lässt sich nun mehr aussagen.




Ein weiteres Beispiel:

Das Bild „Paolo und Francesca“ (Abb. 5) von Anselm Feuerbach evoziert den Moment, in dem das Paar aufhört zu lesen, und im Übergang soeben zum Nächsten sich befindet / Lesepause.

Dante Alighieri schreibt zur Geschichte von Paolo und Francesca in der „Göttlichen Komödie“ (29–30):

    „Wir lasen eines Tages zum Vergnügen
    Von Lanzelot, wie Liebe ihn umstrickte,
    Allein und unbeargwohnt waren wir.
    Oft hieß des Buches Inhalt uns einander
    Scheu ansehn und verfärbte unsre Wangen;
    Doch nur e i n Punkt war´s, welcher uns bewältigt.
    Denn als wir, wie das langersehnte Lächeln
    Von solchem Liebenden geküßt ward, lasen,
    Da küßte, dem vereint ich ewig bleibe,
    Am ganzen Leibe zitternd, mir den Mund.
    Zum Kuppler ward das Buch und der´s geschrieben.
    An jenem Tage lasen wir nicht weiter. – – “ [3]

Das Bild evoziert z.B. jene Pause: „An jenem Tage lasen wir nicht weiter. – – “ [Z. 12]


„Doch nur e i n Punkt war´s, welcher uns bewältigt.“ [Z. 6]: Der Punkt ist die Pause der Schrift.


 

Phallisch aufgefasst hat Gemälde von Feuerbach zuletzt Daniel Kupper 2005. [4] Hier beschrieb er ein Porträt von Nanna, Feuerbachs bevorzugt in Italien abgebildetem Modell, und das einzige Attribut, Nannas Fächer (zum Gemälde), die phallische Lesart bezieht sich auf die einzelnen Glieder ihres vielgliedrigen Fächers. [3]

Im Rotspektralen erscheint das Bein des Mannes in „Paolo und Francesca“ (Abb. 5), das im Sitzmotiv erotisch konnotiert ist (vgl. z.B. die Darstellung bei Jörg Träger, Goya. Die Kunst der Freiheit, München 2000, zur Historie der sexuellen Symbolik des Beinkreuzens im Genre Paarbildnis), als überdimensionaler Phallus (Abb. 6). Zusätzliche sexuelle Symbolik findet sich im Halten des Fingers zwischen die Seiten des Buchs.

Der Blick und der begrifflich identifizierende Zugriff auf das symbolistische Bild identifizierten die Farbe Rot für Paolos Hut. Durch die Situierung von Rot nahezu auf der Mittelachse der Leinwand erhält die Komposition Stabilität. Paolos Bein aber wäre bei der Beschreibung des Motivs durch Farbbegriffe (Farbnamen) nicht sogleich durch seine Rotwerte aufgefallen. Das Bein ist allenfalls etwas rötlich, „rot“ aber, dem Farbbegriff nach, ist Paolos Barett.

Ein digitales Instrument zur Farbmessung in Bildern erfasst die Farben der einen Möglichkeit nach im metrischen Skalenniveau, ohne Nominalskala (zur Technologie des hier verwendeten Messverfahrens siehe Rot rechnen, Abschnitt „Technologie des Redcolor-Tools“). Die Farbbegriffe, mit denen wir als Kunsthistoriker*innen sprachlich verfahren, liegen „nur“ dem Wort/Namen nach diskret, Farben der Sache nach jedoch kontinuiertlich vor. Hierin liegt die Herausforderung für jegliche maschinelle Annäherung an den Farbkosmos, welche die sprachlichen Farbbegriffe nicht ausklammert. Die Lösung des RedcolorTools verwendet die Zahl als Instrument, setzt für den Farbwert (jeweilige Entfernung von maximal wahrnehmbarem Rot) als Substitut die Zahl.

In der auch das Farbige berücksichtigenden Betrachtung des symbolistischen Bildes des Deutschrömers Feuerbach gäbe es somit ein rotes Barett, betonend das Denken, die ratio, subversiver, im Errötungsprozesse, ganz rechts im Bild, also dem Zukünftigen zugeordnet, ertönte als das Irrationale der Trieb. Paolo also hätte die geliebte Francesca nicht nur durch seine Körperhaltung, sondern auch durch Rot-(Energie-) Werte farblich umfangen.


 

Die Kunst der Deutschrömer evoziert das Ideal eher, als dass sie es offenkundig aufzeigte. Beinahe müsste man sage „ein Ideal“ statt „das Ideal“, denn Eindeutigkeit ist ersetzt worden durch eine Vielfalt an Verweisfiguren. In seiner jeweiligen, subjektiven Versenkung ist dem Betrachter für die Weile dieser Vertiefung eine Welt der Poesie, Ironie, des Humors und des Schönen in der Spätromantik eröffnet.

Das Gefühl, dass etwas vorbei ist (und Momente der Erinnerung, wie in „Ricordo di Tivoli“, Abb. 7), zum Beispiel, kennt nicht nur unsere Zeit. In der Münchener Sammlung Schack (vielleicht wird es Ihr Münchener Lieblingsmuseum) beispielsweise können Sie selber vor den Originalen in ästhetischer Kontemplation Stimmungen aufnehmen, die auch sicherlich etwas haben von einer „Pause“. – Und solange die Sammlungen geschlossen sind (auch die Berliner Nationalgalerie und viele weitere Museen haben die Deutschrömer Mareés, Feuerbach und Böcklin in ihrem Bestand), werte/r Leser/-in, werden Sie den Weg über die Internetseiten finden.

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Stichwort Rekreation: Finden Museen, Bibliotheken, Archive zur Rekreation in der Generalpause ihres einstmaligen Betriebslebens? Werden die Leute fortan hinter jeder Buchseite, jeder normalen (analogen) Eintrittskarte, jeder Türklinke die Viren fürchten?

Viele Kulturinstitutionen, -betriebe und -organisationen nutzen die Zeit der Quarantäne bereits zur Rekreation – strukturell und inhaltlich. Strukturell heißt, dass man sich „für das Digitale“ „aufstellt“ (insgeheim werden mehrere Phasen eines allgemeinen Lockdowns erwartet, man wähnt sich in Phase 1). Inhaltlich heißt, dass man eigene „Angebote“ nun verstärkt von der Idee eines digital an die Öffentlichkeit angeschlossenen, im privaten Heim sich aufhaltenden Interessenten/Nutzers aus konzipiert.

Die kleinen Buchhandlungen, der kleine Einzelhändler, was machen sie? Die Giganten im Digitalen, welche Pläne verfolgen sie generell und welche schmieden sie jetzt?

Welches Publikum erreichen Kulturveranstalter auf welche Weise im Digitalen?

Was wird aus dem Komplex Schule, Bildung, Unterricht? In welche Richtung entwickeln sich die Universitäten?

Aus der Zeit vor Corona ist bereits die „alte“ Zeit geworden. Aus dem früheren Betriebsleben der Institutionen ist ihr altes, ehemaliges, einstmaliges Leben geworden. Es ist das „Leben von früher“ geworden.

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Die Generalpause. Sie ist die allgemeine Stille des gesamten Orchesters. Nach ihr hebt ein neuer Ton an. Es ist der Mittagsschlaf der Nation 2020, die noch keine Pläne für den Abend hat. Ein wirtschaftlicher Stillstand, vom Staat eingeleitet, nachdem die Wissenschaft zu Wort kam. Die Generalpause dient dem Schutze der Menschheit. Irgendwann, nach dieser Zeit, finden die Menschen, durch jene Zeit, zur neuen Taktung.





[1] Friedrich Schlegel: Lucinde. Ein Roman, hg. von Karl Polheim, Stuttgart 1964 [1799], S. 31–32:
„ „Sieh ich lernte von selbst, und ein Gott hat mancherlei Weisen mir in die Seele gepflanzt.“ So darf ich kühnlich sagen, wenn nicht von der fröhlichen Wissenschaft der Poesie die Rede ist, sondern von der gottähnlichen Kunst der Faulheit. [...] „O Müßiggang, Müßiggang! du bist die Lebensluft der Unschuld und der Begeisterung; dich atmen die Seligen, und selig ist wer dich hat und hegt, du heiliges Kleinod! einziges Fragment von Gottähnlichkeit, das uns noch aus dem Paradiese blieb.“ “

[2] Max Imdahl: Zu einer Zeichnung von Norbert Kricke (1988), in: Max Imdahl. Gesammelte Schriften, Bd. 1, Zur Kunst der Moderne, hg. von Angeli Janhsen-Vukicevic, S. 539–546, hier S. 543.

[3] Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie, 29–30:
„Wir lasen eines Tages zum Vergnügen
Von Lanzelot, wie Liebe ihn umstrickte,
Allein und unbeargwohnt waren wir.
Oft hieß des Buches Inhalt uns einander
Scheu ansehn und verfärbte unsre Wangen [röter, WP];
Doch nur e i n Punkt war´s, welcher uns bewältigt.
Denn als wir, wie das langersehnte Lächeln
Von solchem Liebenden geküßt ward, lasen,
Da küßte, dem vereint ich ewig bleibe,
Am ganzen Leibe zitternd, mir den Mund.
Zum Kuppler ward das Buch und der´s geschrieben.
An jenem Tage lasen wir nicht weiter. – – “

[4] Daniel Kupper: Anselm Feuerbach „Nanna mit Fächer“. Zur Entstehung eines Erotikons, in: Jahrbuch der staatlichen Kunstsammlungen in Baden-Württemberg, Berlin 2005, S. 117–138.

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